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03.
Juni
2020

Wochentext von Matthias Krieg / Ekinci

Ilyas zieht den Handkarren weiter. Mirza und Azad stützen den Fernseher rechts und links. Sie kommen in die Nähe der Höhle, die auf dem Weg runter zum Bach liegt. Die Kinder tragen den ins Bettlaken eingeschlagenen Fernseher zur Höhle am Bach. Sie sprechen nicht. Sie verständigen sich mit Handbewegungen. Vier Kinder, in sich versunken, die schweigen. Als ob jemand aus der Ferne sie hören oder sehen könn­te. Sie tragen den Fernseher bis zum Höhleneingang. Sie schleppen den Fernseher bis zur hinteren Ecke der Höhle. Dort legen sie einen Stein darauf und bedecken ihn dann mit trockenem Gestrüpp.

Yavuz Ekinci, Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam, türkisch 2016.

Der Diktator nutzt jede Gelegenheit, sie als Terroristen zu brandmarken. Sein Aus­sen­minister stellt Kollegen, die sich für sie einsetzen, als Kollaborateure von Terrori­sten dar. Dreissig Millionen sind sie, aber ohne Selbstbestimmung und auf vier Län­der ver­teilt. Wo sie dank der Schwäche des jeweiligen Regimes Struk­­tu­­ren aufbauen können, werden diese bei nächster Gelegenheit wieder zerstört. Gross­mächte nutzen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, um sie nach geleisteter Arbeit über Nacht fallen zu lassen. Gerade sind wieder Zehntausende von ihnen auf der Flucht.

Der hier über sie schreibt, Yavuz Ekinci, hat zwar eine Mutter­sprache, kann sie aber nicht benutzen. Er ist Kurde und schreibt über Kurden einen kurdischen Roman. Das geht nur auf Um­we­gen. In dem Dorf, in dem meine Eltern leben, liegen auf dem Fried­hof vierzehn Generatio­nen meiner Vorväter, erzählt er im April 2017 in einem Interview der FAZ: Als es das erste Mal hiess, es werde vom türkischen Militär eva­kuiert, sagte mein Vater: Wir können ja vielleicht weg, aber was ist mit unseren To­­­ten? Kurden lieben ihr Kurdistan so selbstverständlich wie Schweizer ihre Schweiz: Die Men­schen in dieser Re­gion sind sehr verwur­zelt, sagt Ekinci, ih­re Welt besteht aus dem Ort, an dem sie sind und schon immer waren. Sie kön­nen sich nicht vorstel­len, dass es einen anderen für sie gibt.

In seinem Roman beschreibt er kurdisches Leben mit einer Mix­tur aus Mär­chen, My­then und Mi­lieu­bildern. Auf literarischen Um­wegen. Hier erzählt er aus der Perspek­tive Halbwüchsiger, wie vom Berg Amar herab plötz­lich, einer my­thi­schen Hor­de gleich, Leute auftauchten, die alles niederbrannten und zer­störten, was ihnen in den Weg kam. Im Fernglas sieht man sie und ruft in heller Auf­regung immerfort: Sie kom­men. Die Jungs haben Sorge, dass auch ihr Ball und ihr Fernseher, die bescheide­nen Symbole klei­nen Glücks, ver­bren­nen und verkohlen würden. Wer sie sind, die da kommen, bleibt ungesagt, eben­so, ob sie tatsächlich gekom­men sind.

Nur die Angst ist hier real. Aus Angst schaufelt einer neben dem Grab seiner verstor­be­nen Frau sein eigenes und legt sich hinein, um zu warten. Aus Angst hängt ein an­de­rer seine ganze Habe in den Wipfel eines Baums und verbirgt sich in der Nä­he, um zu überleben. Aus Angst verstecken die Jungs ihren Fernseher in einer Höh­le, einge­wickelt und ge­tarnt wie ein Schatz, um ihn nach der Katastrophe wieder her­vor­holen zu können. Er steht für alles Ersehnte und Gefährdete. Die Moderne repräsentiert er, ist Ver­bin­dung zur Welt und zur Zeit, Quelle von Bildung, Informa­tion und Unterhal­tung, Ga­ran­tie, zur Gemeinschaft der Völker zu gehören und nicht von ihr ausge­schlos­sen zu sein. Der Fernseher ist ein Versprechen. Doch nun herrscht nackte Angst. So mythisch, wie er begonnen hat, schliesst der Roman in der Welt der Tiere: Eine Feu­er­wal­ze hat sie überrollt. Alles ist ver­brannt und verkohlt. Ein Eichhörn­chen hüpft mit versengtem Schwanz durch versengte Bäume …

Wie real die Angst der Kurden ist, von der Ekincis Roman erzählt, sagen gerade eben die Nach­richten vom Diktator und seinem Aussenminister. Ohne Umwege.

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Agenda

8. Februar 2025

Mit Kunst und Musik durch die Psalmen mit Gott in Dialog treten

Friesenberg Kirche   Zürich, Bus 32, 89, 73 bis Bushaltestelle Friesenbergstrasse

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