Der Live-Abend zu KREUZWEISE – Ein Zusammenspiel von Gedanken, Bildern & Musik
Kulturhalle Glärnisch, Wädenswil
Ibrahim al-Koni, Die verheissene Stadt, arabisch 1997.
Wenn er von Oasen schreibt, weiss er, was er tut. Ibrahim al-Koni ist ein Targi, gehört also zum Volk der Tuareg, hat seine Heimat in der libyschen Wüste und spricht als Muttersprache Tamahaq, eine Sprache der Berber. Im riesigen Raum der Sahara, heute geteilt von den Ländern Algerien, Libyen, Niger, Burkina Faso und Mali, sind die Tuareg als Nomaden unterwegs. Der Name Targa bezeichnet ursprünglich das wasserreiche und fruchtbare Wādī al-Ḥayā im Südwesten Libyens und kann deshalb in der Berbersprache auch den idealen Garten bezeichnen.
Die Oase, von der Ibrahim al-Koni hier träumt, der Targi von der Targa, ist also nicht irgendeine, sondern das Paradies der Kindheit, aus dem das Leben, zumal das nomadische, einen für immer vertreibt und das einem gerade deshalb nie aus dem Sinn geht. In den Worten Ernst Blochs, des Philosophen der Hoffnung, ist es die Heimat als ein utopisches etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war. Beiden, dem Berber im schweizerischen Exil und dem Deutschen im amerikanischen, geht es dabei weniger ums Finden eines realen Gartens, einer realen Oase, einer realen Heimat, die das verlorene und gesuchte Ideal erfüllt, als vielmehr um die Haltung des Suchens. Bloch nennt sie in seinem Hauptwerk Hoffnung (1938-47), al-Koni in diesem Roman Sehnsucht. Beiden eignet eine religiöse Energie, deren Ausrichtung bildlich auch verheissene Stadt heissen kann oder Utopie des Reiches Gottes. Biblisch ist sie das himmlische Jerusalem (Offb 21,1-2).
Im dritten seiner drei thetischen Sätze verortet al-Koni die Haltung des Hoffens und Sehnens: Das Auge eines Menschen zeigt, ob er diese Haltung hat oder nicht. Hat er sie, so kann man ihm vertrauen. Hat er sie nicht, so ist nichts Gutes zu erwarten. Diese weisheitlich anmutende Mahnung ist es denn auch, die der Berber im Exil literarisch vermittelt: Vertraue nie einem Geschöpf, in dessen Auge du nicht eine Kindheit findest! Was für ein Rat!
Im Auge eines Menschen eine Kindheit zu finden, wann ist das der Fall? Wenn es träumend in die Ferne schweift? Wenn es einen Schalk vorüberhuschen lässt? Wenn es sich hinter einem Schleier aus Tränen verzieht? Ein Auge, das Gefühle verrät, ohne sich blosszustellen, das mich beteiligt, ohne mich zu benutzen, das Wärme und Schwäche ausdrückt, ohne zu betteln: Ist es das? – Im Auge eines Menschen keine Kindheit zu finden, wann ist das der Fall? Wenn es einen anstarrt, fixiert und lähmt? Wenn es von oben herab und mit gehobener Braue gebietet? Wenn es scheel Dinge unterstellt, die weder zu bestreiten noch zu beweisen sind? Ein Auge, das fordert, ohne irgendetwas zu schenken, das leer ist und stiert, ohne etwas zu erwarten, das Kälte und Unerbittlichkeit ausstrahlt, ohne einen Kompromiss zu signalisieren: Ist es das? – Klar ist, dass nicht suchen kann, wer nicht verlieren konnte, und nichts finden wird, wer nicht unterwegs ist. Wer nichts erhofft und nichts ersehnt, ist schon tot. Tote Augen zeigen keine Kindheit. Vertraue nie einem Geschöpf, in dessen Auge du nicht eine Kindheit findest! Was für ein Rat!
Die Haltung des Suchens, die ein Hoffen und Sehnen bedeutet, erkennt, ob ein Auge tot ist oder lebt. Es ist die Oase, die sich spiegelt in der Iris, die Kindheit, die flackert im Blick, die Oase der verlorenen und verheissenen Kindheit, die Vertrauen schafft in der Fremde und unter Fremden, die Befremdliches überwindet. Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier, sagt der Liebende zur Geliebten (Hld 4,1).