Der Live-Abend zu KREUZWEISE – Ein Zusammenspiel von Gedanken, Bildern & Musik
Kulturhalle Glärnisch, Wädenswil
Choreography by Balanchine. Prodigal Son 4/4
Wenn wir nach Kunst in der Bibel fragen, nennen wir meist die Psalmen, die Sprüche oder dann Texte über den Bau der Stiftshütte oder des Tempels. Zu den herausragenden Kunstformen der Bibel gehören aber auch die Gleichnisse von Jesus. Wer möchte bestreiten, dass Jesus nicht ebenso wie ein grosser Künstler es fertig brachte, mit grosser Anschaulichkeit und obgleich weniger mit dichterischer Sprachgewalt, so doch mit einer eindringlichen Bildhaftigkeit seine Lehre weiterzugeben?
Allerdings – beim Wort Lehre zucken wir Künstler zusammen. Kunst darf doch nicht “lehren“, sie darf nicht didaktisch sein und nicht plakativ. Dieser antididaktische Reflex, den wir alle wohl kennen, entspringt dem Leiden an schlechter Kunst, auch an schlechter christlicher Kunst.
Solcher Kunst steht aber eine lange Tradition in der Kunst-, Literatur und Musikgeschichte gegenüber, die grossartige Werke mit didaktischer und moralischer Note hervorgebracht hatten. Ja, jede grosse Kunst ist wohl in einem gewissen Sinn didaktisch, weil sie uns eine bisher so nie gekannte Anschauungs- und Gedankenwelt eröffnet.
Darum konnte Friedrich Schiller auch von der “ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ sprechen und mass Berthold Brecht seinem „epischen Theater“ erzieherische Wirkung zu. Didaktisch im platten Sinn wäre ein Kunstwerk dann, wenn es sich problemlos, ohne substantiellen Verlust paraphrasieren, d.h. in umschreibende, vielleicht auch theoretische Begriffe fassen liesse.
Bei den Gleichnissen von Jesus merken wir: Wir können zwar von der Liebe Gottes reden – aber keine Begriffe können uns die Intensität vermitteln, die wir beim Hören etwa der Geschichte des Verlorenen Sohns empfinden. Die Bilder, die Jesus uns mit den Gleichnissen nahe bringt, sind unvergleichlich intensiv. Sie sind Metaphern, denen ein eigenes “Gewicht“ zugestanden werden muss. Deshalb ist ganz entscheidend, wie ein solches Gleichnis in eine andere Kunstform übersetzt wird. Bleiben wir einmal beim Verlorenen Sohn, so finden wir jene wunderbar innige Darstellung der Vaterliebe bei Rembrandt. Ein modernes Pendant dazu ist die Choreografie von Sergej Prokofiews Verlorenem Sohn durch den grossartigen Choreographen George Balanchine. Schauen wir diese Heimkehrszene einmal im Youtube an. Was sehen wir da? Der Verlorene Sohn klammert sich wie ein Ertrinkender an den Vater, der sich nicht leicht erweichen lässt. Trotz wunderbarer Musik und grossartigem Tanz malt dieses Ballett ein anderes Bild als Jesus es uns naheliegt. Eine dritte Übertragung des Gleichnisses in eine moderne Form nimmt Floyd Mc Clung in einem seiner Bücher vor. Es ist eine grossartige Umsetzung des Gleichnisses in einer simplen Geschichte. Das Brisante daran ist: Es ist eine tatsächliche Geschichte, also keine „Kunst“ in engerem Sinn. Manchmal verwischen die Grenzen von Kunst und Leben eben. Und man könnte nun höchstens noch weiterdenken und sich vorstellen, der Künstler Christo würde sich dieser Geschichte annehmen (siehe seine verhüllten Bäume im Bild rechts).
Aber lassen wir uns durchaus von dieser kraftvollen Geschichte über die Vaterliebe bewegen: Sawat war ein Thailänder aus christlichem Elternhaus. Da er sich in dem kleinen Dorf, in dem seine Eltern wohnten, nicht mehr wohl fühlte, riss er aus nach Bangkok. Dort geriet er bald in einen Sumpf und liess sich auf Mädchenhandel und Drogengeschäfte ein. Er wurde reich. Doch dann nahm alles eine rasche Wende. Ein Unglück folgte dem anderen. In der Unterwelt verbreitete sich das Gerücht, Sawat sei ein Polizeispitzel. Er war am Ende. In dieser schlimmen Situation erinnerte er sich an seine Eltern und daran, dass sein Vater beim Abschied zu ihm gesagt hatte: “Ich warte auf dich.” Ob das immer noch stimmte? Sawat entschloß sich, einen Brief zu schreiben. Darin schrieb er: „Am Sonntagabend werde ich in dem Zug sein, der durch unser Dorf fährt. Wenn du immer noch auf mich wartest, häng bitte ein weißes Stück Stoff an den Baum vor unserem Haus!“ …
Der Zug fuhr und fuhr, und Sawat war voller Unruhe. Was sollte er tun, wenn kein weißes Stück Stoff an dem Baum hing, wenn sein Vater ihm nicht vergeben wollte? Schließlich ertrug er die Spannung nicht mehr. Er schüttete dem freundlichen, alten Herrn, der ihm gegenüber saß, sein Herz aus. Als der Zug sich dem Dorf näherte, sagte er zu ihm: “Ich wage es nicht, zu dem Baum hinzusehen. Würden Sie das für mich tun?” Sawat fing an zu weinen und verbarg das Gesicht in den Händen. “Unser Haus müßte schon zu sehen sein,” sagte er schluchzend, “es ist das einzige Haus mit einem Baum davor.” “Junger Mann,” sagte der Mitreisende nun, “ich sehe den Baum und das Haus. Ein Stück Stoff, sagten Sie? Nicht nur ein Stück Stoff hängt an dem Baum – der Baum ist ganz und gar mit weißen Stoffstücken behängt! Und da steht ein Mann davor, der ein riesiges Stoffstück hin- und herschwenkt…“
Text: Beat Rink