Biblische und andere Wegbeschreibungen
Communität Don Camillo
Es gab eine Zeit, da ich meinen Nächsten ablehnte, / wenn sein Glaube nicht der Meine war. // Heute ist mein Herz Herberge für alle Religionen: / Weide für Gazellen und Kloster für Christenmönche, / Tempel für Götzenbilder und Kaaba für Pilger, / es ist Gefäss für die Tafeln der Thora und die Verse des Koran. // Denn meine Religion ist die Liebe, / und wohin auch ihre Karawane zieht, / dort ist auch mein Weg. / Denn die Liebe ist mein Bekenntnis und mein Glaube.
Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī, Gedicht, arabisch vor 1240.
Kaum vorstellbar: das Herz als Herberge für alle Religionen. Muḥyī d-Dīn Abū ʿAbd Allāh Muḥammad ibn ʿAlī Ibn ʿArabī al-Ḥātimī aṭ-Ṭāʾī ist der volle und stolze Name dessen, der derlei schreibt. Er tut es zuerst in Spanien, denn dort ist er 1265 geboren. In Murcia verbrachte er seine Kindheit und in Sevilla seine Jugend. Im Mannesalter zog es ihn über Nordafrika und Mekka in den Nahen und Mittleren Osten. 1240 ist er in Damaskus gestorben. Er hat eine grosse Literatur hinterlassen.
Heute kaum vorstellbar: das Herz als Herberge für alle Religionen. Was Ibn Arabi zum Magister Magnus gemacht hat, ein Ehrentitel des christlichen Westens für den Mann aus dem musilimischen Osten, wäre heute schutzbedürftig. Ohne Bodyguards könnte so einer heute, ob im Westen oder im Osten, ob islamistischen oder evangelikalen Fundamentalisten ausgesetzt, wohl kaum aus dem Haus, und gross würde heute kaum jemand einen solchen Lehrer finden.
Liebe ist seine Religion. Sie ist sein Bekenntnis und sein Glaube. Das würden heute, ohne deshalb schon weiter in die Tiefe zu gehen, viele sogar teilen. Doch Liebe bei Ibn Arabi ist nicht sesshaft, sondern unterwegs, nicht häuslich, sondern freilebend, nicht idyllisch, sondern riskant. Seine Liebe ist nicht etabliert. Sie hat eine Karawane. Hier hört für viele Heutige die Sympathie bald auf. Von Liebe zu reden, ohne je das eigene Dorf, die eigene Stadt, das eigene Land zu verlassen, wäre für Ibn Arabi nicht möglich, kommt sie doch erst dann vom oberflächlichen Daherreden weg und zu ihrer eigentlichen Tiefe, wenn sie aushäusig wird und in die Fremde zieht. Liebe in der Fremde und zum Fremden, Liebe zu dem, der nicht ich bin, Liebe zum Nicht-Ich: erst sie ist religiöse Liebe, ist Bekenntnis und Glaube.
Liebe ist seine ganze Religion. Logik lässt schliessen, dass Hass dort zu Hause ist, wo man keine Karawane hat, in seinen Grenzen bleibt, die Fremde meidet. Hassreden sind deshalb erfahrungslose Worte, blindlings über Grenzen hinweggeschleudert, die man selbst nie überschreitet, ahnungslose Tiraden, in unbekanntes Land entsandt, vor dem man eine dumpfe Angst entwickelt, herzloses Geschwafel, aus Höhlen gefunkt, die niemals Herbergen für andere waren. Hass ist unheimlich sesshaft, Liebe aber ist heimlich immer unterwegs. Ihre Karawane zieht.
Vorstellbare Liebe in unvorstellbarer Zeit? Vor achthundert Jahren hat der Sohn Arabiens im christlichen Abendland eine Kultur entwickelt, die heute vorbildlich wäre. Ihr Bekenntnis wäre, dass in jedem, der anders ist als ich, genau deshalb etwas steckt, was mich bewegt und verändert, bereichert und beglückt, was mich zusammen mit ihm vertieft und erhöht: Sofern ich zuhöre statt urteile, hinsehe statt wegschaue. Sofern ich transzendiere, statt im Eigenen zu verharren. Ihr Glaube wäre, dass im Anderen, der ich nicht bin und nie sein werde, ebenso ein Göttliches wohnt, wie im Eigenen, selbst wenn mir dessen Art, Name und Vorstellung unbekannt sind und immer irgendwie fremd bleiben: Sofern ich überschreite statt verleumde, transzendiere statt blasphemiere. Hassende, solche ohne Herberge und Karawane, sind heute die eigentlichen Atheisten. Liebe aber ist vorstellbar: als weltoffene, mutige und stolze Karawanserei in den gottlosen Wüsten des Hasses.