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16.
November
2016

Kunst im Dienst der Wahrheit

Vor einigen Tagen starb hochbetagt die „grand old lady“ der österreichischen Literatur, Ilse Aichinger (1921-2016). Wobei es weder zur Person noch zur Schreibweise von Aichinger passt, sie als „grand“ zu bezeichnen. Sie übte sich in Bescheidenheit und ihre Texte (vorab Gedichte) waren eher subversiv. Subversiv wie „Maulwürfe“ – so ein Buchtitel ihres längst verstorbenen Mannes, des Schriftstellers Günter Eich (1907-1972). Auch der einzige Roman von Ilse Aichinger ist auf seine Weise subversiv:
„Die grössere Hoffnung“. Er erschien im Jahr 1947, also zur sogenannten „Stunde Null“ der deutschen Nachkriegsliteratur. In dieser Stunde Null war der Schreibstil der Vorkriegszeit überholt. Es gab zwar Dichter wie Hermann Hesse (1877-1962), die 1945 noch pathetisch singen konnten: „Wollet! Hoffet! Liebt! Und die Erde gehört euch wieder.“

Aber Günter Eich dichtete:
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen. …

LINK zum ganzen Gedicht:http://www.deutschelyrik.de/index.php/inventur.html

Der Unterschied im sprachlichen Gestus ist unüberhörbar. Dahinter steckt der Wille, nach all dem Grauenvollen nicht zur Tagesordnung überzugehen und die „Güte“ des Menschen zu preisen, sondern eine realistische Inventur zu machen von dem, was noch übrigbleibt. Und es ist nicht viel an äusseren Gütern und nicht viel an Vertrauen in die Güte des Menschen, was übrigbleibt.

Ilse Aichinger schreibt 1946 einen Essay “Aufruf zum Mißtrauen”:

„Beruhigen Sie sich, armer, bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! (…) Sie sollen nicht Ihrem Bruder mißtrauen, nicht Amerika, nicht Rußland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie mißtrauen! Ja? Haben sie richtig verstanden? Uns selbst müssen wir mißtrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen! Schwingt nicht schon wieder Lüge darin? …Unserer eigenen Liebe! Ist nicht angefault von Selbstsucht? Unserer eigenen Ehre! Ist sie nicht brüchig vor Hochmut? “

Hier dringt bei der Halb-Jüdin Ilse Aichinger schon fast „biblischer Realismus“ durch wie auch in ihrem 1947 erschienenen Roman „Die grössere Hoffnung“. Dort suchen halb-jüdische Kinder und in ihrer Mitte das Mädchen Ellen ihre Rettung. Ellens Hoffnung ist die Reise nach Amerika, wohin ihre Mutter geflohen ist. Aber in Ellen lebt noch eine andere Welt – und eine grössere Hoffnung, die nichts mehr mit dieser irdischen Realität zu tun hat. Ja, an ihrem kindlichem Wesen, Hoffen und Träumen gerät das weltliche Machtgefüge ins Wanken und löst sich auf – so wie im hereinbrechenden Bombenhagel die Häuser zusammenstürzen.

Die kindliche Welt erweist sich dabei als stärker als die Welt der Erwachsenen. Die Welt der Erwachsenen wird durch die Optik der Kinderaugen betrachtet, was dem Roman ein surreales Gepräge gibt. Obwohl sich Ilse Aichinger meines Wissens nicht zum christlichen Glauben bekannt hat und einmal meinte, das grösste Unglück sei die Genesis gewesen (meinte sie Genesis 1 oder Geneis 3?), gibt es besonders in „die grössere Hoffnung“ biblische Anklänge. So tauft Ellen ihre sterbende Grossmutter. Da ist vom König David die Rede und von Engeln. Und der Roman schliesst, nachdem eine Granate Ellen in Stücke reisst, mit dem Satz „Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern.“ Der Stern (der hell leuchtende Judenstern auf den Kleidern) ist im Roman Sinnbild dieser Hoffnung.

In TUNE IN 193 war von der Wahrheit die Rede, die in der Kunst aufleuchtet (siehe den Vortrag von Wolfgang Bittner.)* Zu wahrhaftiger Kunst gehört, dass sie verneint, was beschönigen und idealisieren will. Im Werk von Ilse Aichinger lässt sich ein starker Wille ablesen, wahrhaftig zu sein und nichts zu beschönigen – und trotzdem (oder gerade deshalb) an einer nicht-ideologischen „grösseren Hoffnung“ festzuhalten.

Text: Beat Rink

* Der Vortrag ist mitterweile auf Youtube: Deutsch https://www.youtube.com/watch?v=DnzgBmiHbVE und mit französischer Übersetzung: https://www.youtube.com/watch?v=ElpC_jZVwBc

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