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13.
Juli
2015

Künstler in der Kirche / Teil V: “Offene Kunstwerke im Gottesdienst?”

Wie Umberto Eco* (links unten im Bild) in einem bahnbrechenden Buch ausführt, sind viele moderne Kunstwerke in einer dreifachen Weise offen:

1. Sie sind „in Bewegung“ (wie die Mobiles von Alexander Calder) und bieten dem Betrachter an, das Werk mit zu gestalten.

2. Sie sind offen für ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen, wie es zum Beispiel der  Hörer einer seriellen Komposition erlebt. In einer “multipolaren Welt” ohne absolutes Zentrum schafft er sich hörend eine eigene Struktur.

3. Sie sind offen für eine unendliche Reihe möglicher Lesarten. Sie machen sich geradezu verfügbar für verschiedene Interpretationen und bieten selber nicht unbedingt eine bestimmte Deutung an. Die Romane von Franz Kafka oder ein Bild von René Magritte kann man zum Beispiel nicht so eindeutig interpretieren wie einen Roman (oder ein Bild) aus dem Barock, die vielleicht auf den ersten Blick ebenso verwirrend sind, aber auf einer klaren Zuordnung von Bildern und Bedeutung beruhen.

Dass Kunstwerke heute “offener” sind als in früheren Jahrhunderten, ist ein Phänomen der “modernen Zeit”. Eco legt dar, dass zwischen Aufklärung und Romantik die Idee der “reinen Poesie” aufkommt. Dahinter steht eine Ablehnung allgemeingültiger Ideen und abstrakter Gesetze (durch den englischen Empirismus) und eine neue Auffassung von künstlerischer “Schöpfung”. Aber erst nach der Romantik, im Symbolismus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, entsteht eine bewusste “Poetik des offenen Kunstwerks”.

Bevor wir nach dem Ort des “offenen Kunstwerks” in der Kirche fragen, müssen wir klären: Wie stellt sich nun von christlicher Seite das “offene Kunstwerk” dar? Um plump zu  fragen: Können Christen “offene Kunstwerke” schaffen, wo sie doch daran glauben, dass es eine “zentrale Wahrheit” gibt? Können sie hinter die weltanschaulichen Positionen des Empirismus  zurückgehen?

Wenn wir davon ausgehen müssten, dass jedes “offene Kunstwerk” zugleich kommuniziert, dass es keine allgemeingültige Wirklichkeit und Wahrheit geben kann, so hätten Christen tatsächlich ein Problem. Aber dies wäre ein ebenso fataler gedanklicher Kurzschluss wie die Behauptung, dass Musikinstrumente mit heidnischem Hintergrund (oder Rockmusik aus nicht-christlichen Quellen) nicht von Christen adaptiert werden können, weil damit immer auch eine heidnische Botschaft transportiert wird.

Die Sprache des “offenen Kunstwerks” – oder besser: eines Kunstwerks, das verschiedene Deutungen zulässt – ist nichts Verwerfliches. Jedes instrumentale Musikstück ist schliesslich “deutungs-offen”.

Wie lässt sich nun ein “offenes Kunstwerk” in der Kirche zeigen oder aufführen? Welchen Ort kann es u. U. in einem liturgischen Rahmen einnehmen? Dazu vier Punkte:

1. Dass ein Kunstwerk “offen” ist, sagt noch nichts über seine Qualität aus. Ein Kunstwerk ist nicht einfach besser, je offener es ist. Und umgekehrt gibt es weniger offene Kunstwerke (zum Beispiel die, in einem früheren TUNE IN vorgestellten, Bibelillustrationen von Kees de Koort), die sehr gut sind!

2. Es ist trotzdem wichtig, dass die Kirche ein Verständnis für “offene Kunstwerke” entwickelt und nicht allein Kunst fördert, die eine bestimmte Aussage oder Geschichte der biblischen Botschaft respektive der Predigt “illustriert”.

Die Sprache der heutigen Kunst ist vielen Christen fremd – und entsprechend ungeduldig kann die Reaktion auf ein Werk sein, das sich nicht unbedingt dem unmittelbaren Verständnis erschliesst. Ich selber habe mit eigenen poetischen Texten gerade in christlichen Kreisen immer wieder die Frage gehört: “Was meinst du damit?” Es schien mir, die Bitte um Erklärung war ein Alibi für die Mühe, den Text auf sich wirken zu lassen und sich ihm mit etwas Geduld anzunähern.

3. Wie überall, wo Kunst in der Kirche Eingang finden soll, muss sorgfältig ausgewählt werden, welches Werk in welchen Rahmen “passt”. Das heisst: Es muss ein Hör-Raum und ein Seh-Raum (bzw. ein geeignetes Zeit-Fenster) dafür gefunden werden. Und auch die Atmosphäre und die Aussage(n) eines Werks wollen bedacht sein.

Zweifellos ist nicht jedes Werk für einen kirchlichen Kontext, z. B. einen Gottesdienst,  geeignet. Ein Gottesdienst hat eine bestimmte inhaltliche Richtung, und es wäre fatal sowohl für den Gottesdienst als auch für die Kunst, wenn es darin ein Fremdkörper wäre.

4. Unter Künstlern besteht oft der Vorbehalt: “Kunst, die sich auf die biblische Botschaft bezieht, ist illustrativ, propagandistisch und inhaltlich allzu eindeutig.” Dahinter steht ein Missverständnis, das möglicherweise auf ein verkürztes Bibelverständnis in den Kirchen zürückgeht.

Denn: Gerade die Bibel ist ein “offenes Kunstwerk”! Dies nicht im Sinn beliebiger Interpretierbarkeit, sondern so: Wir erfahren doch immer wieder, dass das Wort der Bibel auf überraschende Weise spricht – und wirkt.

Heute spricht und wirkt es anders als gestern – und darum werden wir es auch morgen wieder erwartungsvoll zur Hand nehmen. Nicht selten entfaltet sogar genau der gleiche Text, neu gelesen, eine andere Bedeutung und Lebenskraft.

So hat das Bibelwort eine Dimension, die kein Menschenwort je erreichen kann. Es ist zwar nicht nach allen Seiten hin offen und beliebig interpretierbar, aber es ist vertikal nach oben hin offen und Gott wirkt dadurch in eine Tiefe der Seele – und der Geschichte hinein – wie kein anderes Wort oder Kunstwerk. Also wird auch gelten, dass von der biblischen Botschaft inspirierte Kunst nicht zwingend eindimensional und “flach” ist.

Die Kirche müsste sich demnach üben, auf einen vielschichtigen Text zu hören. Sie müsste zum Beispiel auch nicht-seichte Musik schätzen lernen. Sie müsste visuelle Kunst fördern oder ein Theater- oder Tanzstück loben, die nicht eindimensional sind.

Dies eben deshalb, weil sie auch mit dem vielschichtigen Bibelwort subtil und nicht eindimensional verfährt. Und weil sie weiss: Gott redet und wirkt immer wieder auf nicht-vorhersehbare Weise durch sein Wort. Und er kann auch durch ein Kunstwerk reden!!!

Und der Künstler? Er darf seinerseits entdecken, dass das Bibelwort nicht eindimensional ist, sondern ein nach oben hin “offenes Kunstwerk”.

Fragen:

  • Wo haben “offene Kunstwerke” in der Kirche Platz?
  • Wie erfahre ich selber das Bibelwort?
  • Als offen und vielschichtig?

Übung, die wir kürzlich in einem Künstlerkreis machten:

  • Nimm einen Bibeltext zur Hand, z. B. Johannes 6,1-15.
  • Lies ihn still – mit dem Gebet, dass Gott zu dir durch ein bestimmtes Wort oder Bild spricht. Was  “leuchtet” darin auf?
  • Lies ihn noch einmal mit der Bitte: Zeig mir, welche Stimmung mit diesem Wort verbunden ist.
  • Lies ihn ein drittes Mal mit der Bitte: Zeig mir, was das für mich bedeuten könnte. 

* Umberto Eco: “Das offene Kunstwerk” (Opera aperta), 1962 | TUNE IN 132 vom 13. Juli 2015 | Unser Text ist von Beat Rink, Präsident von ARTS+ | Weitere TUNE INs findest Du hier

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Künstlerportrait

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Heike Röhle

Bildende Kunst
Geboren 1969 in Hof (D)/ Studium an der Universität Hildesheim: Malerei/Druckgrafik, Literatur, Theater/ lebt und arbeitet in der Nähe von Bern (CH)/ /arbeitete an verschiedenen Institutionen und Museen als Kunstvermittlerin/ 2014 Gründung von KUNSTSPIEL /seit 2017 verschiedenen Einzel- und Gruppenausstellungen
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