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22.
April
2014

Johannes 20, 24-29

Thomas, auch Didymus genannt, einer der Zwölf, war nicht dabei gewesen, als Jesus zu den Jüngern gekommen war. Die anderen erzählten ihm: “Wir haben den Herrn gesehen!”

Thomas erwiderte: “Erst muss ich seine von den Nägeln durchbohrten Hände sehen; ich muss meinen Finger auf die durchbohrten Stellen und meine Hand in seine durchbohrte Seite legen. Vorher glaube ich es nicht.”

Acht Tage später waren die Jünger wieder beisammen; diesmal war auch Thomas dabei. Mit einem Mal kam Jesus, obwohl die Türen verschlossen waren, zu ihnen herein. Er trat in ihre Mitte und grüßte sie mit den Worten: “Friede sei mit euch!”

Dann wandte er sich Thomas zu. “Leg deinen Finger auf diese Stelle hier und sieh dir meine Hände an!”, forderte er ihn auf. “Reich deine Hand her und leg sie in meine Seite! Und sei nicht mehr ungläubig, sondern glaube!”

Thomas sagte zu ihm: “Mein Herr und mein Gott!” Jesus erwiderte: “Jetzt, wo du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind die nicht sehen und doch glauben.”

Es war für mich als Kind eine der ersten und eindrücklichsten Erfahrungen mit christlichem Schauspiel: Das Einmann-Theater des grossartigen niederländischen Schauspielers Tob de Bordes (1927 – 2012), der neben sechs abendfüllenden Programmen auch biblische Monologe auf die Bühne brachte. Dabei war eine Rede des Thomas, der Rückschau hielt auf seine lebensverändernde Begegnung mit dem Auferstandenen.

Tob de Bordes stellte den Thomas als Stotterer dar. Sehr gehemmt und fast in sich gekehrt berichtete er von seinen tiefen Zweifeln. Der Schauspieler gab den Stotterer hervorragend wieder. Das kleine Theaterstück kam ohne religiösen Kitsch aus – wie auch die anderen Stücke, die dieser grossartige niederländische Künstler aufführte, mit dem ich dann Jahrzehnte lang befreundet sein durfte.

Vielleicht war Thomas kein Stotterer, aber doch ein tiefer Denker und Zweifler – und damit uns Künstlern und „geistig Arbeitenden“ wohl irgendwie verwandt.

Einige Gedanken zu ihm und seiner etwas eigenartigen Bedingung: „Erst muss ich seine von Nägeln durchbohrten Hände sehen…Vorher glaube ich nicht.“ – Könnten wir Thomas fragen: „Warum hast du diesen eigenartigen Wunsch geäussert?“, so würde er vielleicht folgende Antwort geben: „Erstens wollte ich ganz sicher sein, das Jesus wirklich lebt. Zweitens wollte ich ihm persönlich begegnen. Und drittens wollte ich wissen, dass er das Leiden und unser Leid nicht vergessen hat…“.

Wenden wir uns der ersten (möglichen und sogar wahrscheinlichen) Antwort des Thomas zu: Er wollte sicher sein, dass das mit der Auferstehung kein „leeres Gerede“ war (s. Lukas 24,11). Thomas wollte keinem blinden Glauben folgen. Oft wird die Antwort von Jesus so missverstanden, dass wir blind glauben sollten. Eine Fehlinterpretation. Jesus tadelt Thomas nicht für seinen Wunsch, seinen Glauben auf konkrete Erfahrungen und Wahrnehmungen abstützen zu wollen. Schliesslich beginnt der 1. Johannesbrief mit den eindrücklichen Worten: „Was von Anfang war, was wir gehört, was wir mit unsren Augen gesehen haben, was wir beschaut und was unsre Hände betastet haben, …das verkündigen wir euch.“

Jesus tadelt aber Thomas, weil er seinen Freunden, den anderen Jüngern, keinen Glauben geschenkt hat, wo doch sie verlässliche Augenzeugen waren. Im Judentum galt: Wo mindestens zwei vertrauenswürdige Zeugen auftraten, war ihnen zu glauben. Aber Thomas glaubte den anderen zehn Jüngern und den Frauen nicht, die Jesus gesehen hatten. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, dies hiesse dann: „Selig sind, die jenen glauben, die es gesehen und bezeugt haben“. So können wir glauben, weil die biblischen Zeugen für uns gesehen haben. Ganz zu schweigen davon: Jesus “zeigte” sich quer durch die Kirchengeschichte hindurch unzähligen Menschen und “zeigt” sich uns immer wieder.

Denken wir über die zweite mögliche Antwort des Thomas nach: „Ich wollte Jesus persönlich begegnen“. Er wollte sich nicht mit einem Glauben aus zweiter Hand zufrieden geben. Für Jesus war das kein Problem. Jesus möchte ja jedem Menschen individuell begegnen und sich jedem von uns auf einzigartige Weise zeigen.

Allerdings liess er Thomas acht Tage warten – weshalb, wissen wir nicht. Auch wir kennen solche Wartezeiten: Zeiten der Dürre, der Gottesferne. Und diese sind schwierig. Immerhin hielt Thomas das Warten aus und verabschiedete sich nicht gleich aus der Jüngerschar und vom Glauben. Vielleicht halfen ihm sogar tröstende Gespräche mit den anderen, die Jesus erlebt hatten. Vielleicht halfen ihm die Psalmen, die von ähnlichen Erfahrungen berichten. Thomas ist somit nicht einfach „ungläubig“, sondern auch treu. Er ist uns darin ein Vorbild.

Die dritte Antwort von Thomas hätte lauten können: „Ich wollte sicher sein, dass der Auferstandene uns und unserem Leid zugewandt bleibt. Als Zeichen dafür musste er immer noch seine Wunden tragen.“

Die frühe Christenheit hat Jesus tatsächlich bald als allmächtigen, völlig unversehrten Pantokrator dargestellt, der auf wunderbaren Mosaiken weit über den Köpfen der Gläubigen thronte. Die Pantokrator-Darstellungen, so schön sie sind, lassen aber aus, dass der Auferstandene unserer Welt mitsamt ihrem Leid und ihrer Schuld nicht den Rücken gekehrt hat.

Auch in der Offenbarung tritt Jesus als Opferlamm in Erscheinung. Und alle, die Erfahrungen mit dem Auferstandenen gemacht haben, bezeugen: Er bleibt der „Immanuel“, der mit uns ist – auch in unserem Leiden und in unserer Schuld. Vielleicht war Thomas selber ein selber Mensch, dem das Leid anderer sehr nahe ging. Vielleicht war er selber ein Gebrochener – ein Stotterer eben. Jesus nimmt ihn auch in dieser Hinsicht sehr ernst und lässt ihn seine Wunden ertasten.

Die Reaktion des Thomas darauf ist ein kurzes, aber wuchtiges Bekenntnis, das durch die Jahrhunderte hindurch einen gewaltigen, ständig anschwellenden Widerhall findet: „Mein Herr und mein Gott!“

Gerade auch zweifelnde Denker, hochsensible Menschen und leidenschaftliche Gottsucher, wie wir sie unter Künstlern oft finden, können zu einem solchen Bekenntnis durchbrechen. Geschieht dies, dann findet eine kleine Revolution statt. Schliessen wir uns ihr an! Und tragen wir dazu bei, dass sie weitergeht.


TUNE IN 69 vom 22 . April 2014 | Unser Text ist von Beat Rink, Präsident von ARTS+ | Weitere TUNE INs findest Du hier

 

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