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14.
September
2015

Gedanken zum 80. Geburtstag von Arvo Pärt

“Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.” (Psalm 131,2)

Vor einigen Wochen stiess ich auf ein YouTube-Video, das meine Gedanken und Gefühle bewegte. Darin ist ein Live-Konzert eines der schönsten Stücke des estnischen Komponisten Arvo Pärt zu sehen, der in dieser Woche 80 Jahre alt wurde: das Schlussgebet aus dem Kanon “Kanon pokajanen” (Busskanon 1997).

Die Aufnahme ist allerdings weit entfernt von perfekter Qualität: Und beim längeren Ansehen des Videos entdeckt man den Grund dafür: Der kroatische Rundfunk-TV-Chor unter der Leitung von Tonci Bilic stand offensichtlich vor der schwierigen Aufgabe, Pärts Kanon im Wettstreit mit lauter Popmusik aufzuführen, die von aussen in die Kirche drang.

Anderthalb Stunden lang mussten Chor und Publikum versuchen, diesen Lärm zu ignorieren und sich mit ganzer Aufmerksamkeit auf jene Musik zu konzentrieren, die sie schliesslich zu dieser Kirche hingezogen hatte.

Genauer betrachtet, sagt diese Videoaufnahme aber etwas über den Stellenwert der klassischen Musik in unserem Leben aus. In einer Welt, in der lautstarke Musik dominant und allgegenwärtig ist, wird es immer schwieriger, einen wirklich stillen Ort zu finden, an dem man sich ungestört auf andere Musik fokussieren kann.

Noch auffälliger ist die unterschiedliche Mentalität, die in den beiden Stilrichtungen herrscht. Der “Kanon pokajanen” bezieht sich auf eine Reihe von Gebeten, die während der Karwoche in den östlichen orthodoxen Kirchen gebetet werden.

Das abschliessende Gebet nach dem Kanon ist ein demütiges Bekenntnis, in dem der Betende erkennt, dass sein Herz – obwohl er sich während einer ganzen Woche an die Leiden Christi erinnert hat, gleichgültig geblieben ist:

“Herr Christus, Gott, durch dessen Leiden meine Schmerzen gelindert wurden
und durch dessen Wunden meine eigenen Wunden geheilt wurden,
Schenke mir, der soviel gegen dich gesündigt hat, Tränen der Reue; (…)

Hilf mir, mein verwerfliches Denken auf dich zu richten und führe es hinaus aus dem Abgrund des Verderbens:
Denn ich fühle keine Reue, ich habe keine Gewissensbisse und vergiesse keine erlösenden Tränen,
welche die Kinder zu ihrem Erbteil emporheben,

Mein Geist ist von Leidenschaften des Lebens verdüstert,
in meiner Schwachheit kann ich nicht zu dir aufblicken, ich kann mich nicht mit Tränen wärmen,
die der Liebe zu dir entspringen.

Aber, Herr Jesus Christus, Schatz alles Guten,
schenke mir vollkommene Reue und ein Herz, das dich mit Eifer sucht;
Gib mir deine Gnade und erneuere mich in das Bild deines Wesens.

Ich habe dich verlassen, nun verlass mich nicht:
Komm, mich zu suchen, führe mich zurück auf deine Weide
und zähle mich zu den Schafen deiner auserwählten Herde…”

Mit sparsamen Noten gibt Arvo Pärt der Demut und dem Bewusstsein der eigenen Schwachheit Ausdruck, welche uns aus diesem Text entgegen kommen; und dies auf besonders eindringliche Weise. Die Sparsamkeit der Musik entspricht der Zerbrochenheit des Geistes, der erkennt, dass er mit leeren Händen vor Gott tritt. Der Text der Popmusik ist unverständlich, aber deren Inhalt spricht zweifellos von etwas ganz anderem als das oben zitierte Gebet.

So besehen, zeigt uns dieses Video auf, wie fremdartig die biblische Spiritualität – Micha 6,8 (“demütig wandeln vor Gott”) dem heutigen Menschen erscheint. Von Natur aus neigen wir dazu, der Begegnung mit unseren Schwächen aus dem Weg zu gehen und die Unruhe in unserer Seele zu dämpfen, indem wir uns in den Lärm der Welt hineinstürzen.

Oft gilt es, etwas in uns selber zu überwinden, bevor wir uns davon wieder abwenden können, bevor wir bereit sind, mit leeren Händen Gottes Gegenwart zu suchen.

Aber der Lärm kommt nicht nur von aussen an uns heran. Er wohnt auch in uns. Gerade wo wir in die Stille einkehren, um Gottes Gegenwart zu suchen, bricht dieser innere Lärm manchmal aus wie ein Vulkan. Wie oft werden wir nicht überflutet von Impulsen, Gedanken und Fantasien – ausgerechnet in jenen Momenten, wo wir uns betend für das Gespräch mit Gott öffnen wollen?

Der betende Mensch sieht sich vor derselben Herausforderung wie der Konzertbesucher im Video: Es geht darum, den Lärm von sich fernzuhalten, um sich ganz dem Gebet widmen zu können, für das man sich Zeit genommen hat.

Es ist bemerkenswert, dass David im Psalm 131,2 nicht sagt, dass die Ruhe und Stille (passiv) seine Seele besucht haben, sondern dass er (aktiv) seine Seele zur Ruhe und in die Stille gebracht hat. Stille muss gesucht werden, Ruhe muss geschaffen werden.

Im Zusammenhang mit dem 80. Geburtstag von Arvo Pärt sollten wir nicht ausser Acht lassen, dass das Video die Entwicklung von Pärt als Komponist auf besondere Weise symbolisiert. Pärt war ein junger, dreissigjähriger Mann, als seine Unzufriedenheit über die Leere avantgardistischer Nachkriegsmusik so überhandnahm, dass ihr den Rücken kehren musst.

Fünf Monate lang lebte er in einem Kloster, wo absolute Schweigepflicht herrschte. Danach begann er sich intensiv mit gregorianischem Gesang und mittelalterlicher Musik zu befassen – in der Hoffnung, eine eigene Variation der “minimal music” zu entwickeln. Dies aus der Substanz der ältesten westlichen Kirchenmusik, die noch präsent war.

Was das Video in Extremis zeigt, ist das Aufeinanderprallen genau dessen, wonach Pärt auf seiner Suche nach dem Guten, Wahren und Schönen gestossen war – und der Welt, der er dafür den Rücken kehren musste. Der Aufwand, den der Chor und das Konzertpublikum auf dem Video leisten mussten, wurde in erster Linie durch den Komponisten selber geleistet – und zwar viel länger als 90 Minuten!

Wäre Arvo Pärt vor dieser Aufgabe zurückgewichen, dann wäre dieses ergreifende “Gebet nach dem Kanon” nie entstanden. Was Pärt in den Siebzigerjahren unmöglich voraussehen konnte: dass seine neo-mittelalterliche Musik in den nachfolgenden Jahrzehnten stark anwachsen würde.

Die heutige Wertschätzung seiner Musik (oft basierend auf alten Gebetstexten mit einem starken Akzent auf Busse) mag unmissverständlich davon zeugen, wie gross der Bedarf nach echter Spiritualität ist: Nach einer Spiritualität, die sich aus der christlichen Tradition nährt und die ihre Gestalt durch ein starkes Schönheitsempfinden gewinnt – und dies noch im 21. Jahrhundert!

Die Lebensgeschichte und die Musik von Arvo Pärt stellen ein gutes Beispiel dafür dar, was Jesus in Johannes 12,24 meinte: “Wenn das Korn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, aber wenn es stirbt, trägt es viel Frucht.”


TUNE IN 141 vom 14. September 2015  | Unser Text ist von Text: Dr. Marcel Zwitser | Übersetzung von Beat Rink, Präsident von ARTS+ | Weitere TUNE INs findest Du hier

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Künstlerportrait

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Heike Röhle

Bildende Kunst
Geboren 1969 in Hof (D)/ Studium an der Universität Hildesheim: Malerei/Druckgrafik, Literatur, Theater/ lebt und arbeitet in der Nähe von Bern (CH)/ /arbeitete an verschiedenen Institutionen und Museen als Kunstvermittlerin/ 2014 Gründung von KUNSTSPIEL /seit 2017 verschiedenen Einzel- und Gruppenausstellungen
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