KIRCHE KREATIV
KULTURKIRCHE PAULUS Basel Basel
Im TUNE IN 180 sind wir einigen Spuren nachgegangen, die die Geschichte vom verlorenen Sohn (Lukasevangelium Kap. 15) in der Kunst- und Musikgeschichte hinterlassen hat, und die im Leben eines jungen Mannes aus Thailand eine wunderbare Fortsetzung gefunden hat.
Hier folgt ein weiteres Beispiel:
Wer kennt nicht das berühmte Kinderbuch Heidi (1880)? Was wenigen Lesern bekannt ist: „Heidi“ von Johanna Spyri (1827-1901) ist eine Erzählung mit einer starken christlichen Botschaft – unter anderem mit der Botschaft vom „verlorenen Grossvater“, wie der Zürcher Theologieprofessor Ralph Kunz schreibt. In vielen Ausgaben und Verfilmungen von „Heidi“ wurde diese christliche Botschaft allerdings herausgestrichen.
Worum geht es?
Das Waisenkind Heidi kommt zu seinem Grossvater auf der Alp. Der Alp-Öhi, wie er genannt wird, ist verbittert. Die Leute im Dorf munkeln, er habe eine dunkle Vergangenheit. Und es wird deutlich: Die Dorfbewohner sind Teil seiner Verbitterung und Verstockung. Aber nun kommt Heidi, die nichts von diesen Gerüchten weiss. Das Herz des Grossvaters wird weich, die harte Schale zerbricht an der Liebe des Kindes. Später bekommt Heidi in Frankfurt ein Buch mit der Geschichte vom verlorenen Sohn geschenkt. Diese Botschaft bringt sie zurück zum Grossvater.
“Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Grossvater?” fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasass und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern. “Doch, Heidi, die Geschichte ist schön”, sagte der Grossvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Grossvater hin und sagte: “Sieh, wie es ihm wohl ist”, und zeigte mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als sein Sohn. Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag, stieg der Grossvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Grossvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen!” Und ein paar grosse Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.“
„Und auch dem Leser und der Leserin werden die Augen feucht“, schreibt Ralph Kunz. „Die Geschichte des bekehrten Grossvaters ist rührselig – in einem ganz qualifizierten Sinn. Selig, wer sich von dieser Geschichte rühren lässt. Was mich fasziniert an dieser Nacherzählung ist die Veränderung des Motivs. Dass der Grossvater das Verhältnis zu seinem himmlischen Vater erneuert, ist sozusagen nur die Hinterbühne des Geschehens. Die Geschichte hat auf der Vorderbühne eine andere Drehung.
In Spyris Auslegung kehrt nicht nur ein verlorener Sohn zum Vater zurück, sondern der Grossvater findet über die Rückkehr des Kindes seinen verlorenen Gott wieder. Die Rollen sind vertauscht. Das Kind macht durch seine Reinheit die Hintergrundsgeschichte der Liebe Gottes durchsichtig. Heidi erinnert den Öhi an das, was er einmal geglaubt hat. Heidi wird zur Interpretin des Evangeliums, weil sie unbelastet von den Altlasten der Dorfkirche die reine Gottesliebe verkörpert.“
Mich selber fasziniert an „Heidi“ zudem, wie der christliche Glaube hier literarisch Gestalt gewinnt. Zweifellos ist eine Spur „Kitsch“ dabei. Doch das ganze Buch wird von einem sanften Hauch Alpen-Romantik durchweht. Und auf der anderen Seite werden die Christen im Dorf überhaupt nicht durch eine romantische Brille gesehen. Johanna Spyris Theologie ist auch an anderen Stellen von „Heidi“ sehr glaubwürdig und geprägt von einem eigenen tiefen Glaubensleben der Autorin.
Oft hört man Fragen wie: „Hat die christliche Botschaft genügend Kraft, künstlerisch Gestalt anzunehmen?“ An einem Buch wie „Heidi“ erkennt man einmal mehr, dass die Frage anders lauten müsste. Nämlich: „Hat unsere eigene Kunst noch die Kraft (und den Mut), dem Glauben Gestalt zu geben?“ Dass dann die christlichen Teile eines Werks übersehen, angegriffen oder gar herausgestrichen werden könnten, liegt nicht mehr in der Verantwortung des Künstlers.
Text: Beat Rink