PrixPlus 2024
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Gestern Abend habe ich mit dem Innsbrucker Bischof über das gute Leben gesprochen. Schon zum zehnten Mal findet unser kleines Symposion heuer im schönsten Hotel der Welt statt, und zum ersten Mal ist ein Bischof mit von der Partie. Das hat wahrscheinlich mit der katholischen Erziehung des Wirten und meiner selbst zu tun. Wir können uns das gute Leben, vor allem seine normative Seite, ohne Pfarrer gar nicht vorstellen. Die Bewirtschaftung der moralischen Ressourcen und der ungehobenen Schuldpotenziale einer Gesellschaft liegt in der Natur der gehobenen Religionsverwaltung, und so muss es einen nicht wundern, dass der Papst und seine Mitbrüder über die Jahrhunderte immer wieder in neue Verhaltensregeln investiert haben. Der Return on Investment ist das Wohlverhalten der Menschen, und wenn einer Glück hat und sonst nicht viel will, kann daraus sogar ein gutes Leben werden. Der Innsbrucker Bischof gehört allerdings nicht zu den ordinierten Schuldakrobaten. Hermann Glettler ist auch Künstler, und als solcher bewirtschaftet er die Fülle und den Überfluss, die moralische Mangelverwaltung der Beichtstuhlmanager ist ihm eher fremd.
Sowohl die Kunst als auch der religiöse Glaube sind in Glettlers Verständnis dankbare Antworten auf den Überfluss an Schönem in der Welt. Das kann man auch dann nachvollziehen, wenn einem die organisierte Frömmigkeit eher nicht so viel bedeutet. Denn es drückt sich darin eine Weltzugewandtheit aus, die auch das Ausgefranste und Deviante dem Schönen zurechnen und mit einem zärtlichen Blick betrachten kann. Schön ist dann nicht mehr nur das, was mit unseren Vorstellungen von Symmetrie und Wohlgeformtheit, von Reinheit und Angemessenheit in Übereinstimmung zu bringen ist, sondern tatsächlich alles. Was wir Tag für Tag sehen und erleben, und auch was viele andere Menschen Tag für Tag mit uns erleben, trübt diesen Blick auf die Welt oft genug ein. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass große Kunst und religiöse Intensität der Verklärung des Elends dienen und der Erschaffung schöner Welten aus dem Dreck der Existenz, bin ich der Überzeugung, dass große Künstler und spirituelle Meister genau das Gegenteil tun: Sie lichten den Nebel und schärfen den Blick.
Ich selbst vertraue dabei mehr auf die Kunst als auf die Religion, weil mir deren Optik besser auf die fragile Beschaffenheit der Welt eingestellt zu sein scheint. Der künstlerische Blick legt die anatomischen Strukturen des Weltkörpers mindestens so präzise offen wie der religiöse, kommt aber ohne invasive Methoden aus. Der Künstler zeigt mir, was ich sehen kann, der Religionsbeamte erklärt mir, was ich tun und empfinden soll. Wenn einer, wie der Innsbrucker Bischof, Künstler und Religionsbeamter zugleich ist, wird es interessant. Kann man als Bischof überhaupt Künstler sein? Muss das, was der Künstler sieht und darstellt, mit der Lehre der Kirche, die er vertritt, im Einklang stehen? Haben wir es dann mit künstlerischen Predigtinstallationen zu tun? Ist ein Bischof, der sich als Teil des kirchlichen Lehramtes versteht, überhaupt frei genug für einen künstlerischen Blick auf die Welt? Ich weiß es nicht, und ich glaube, der Bischof weiß es auch nicht, und das mag ich. Er tut einfach beides, schaffen und predigen, schauen und amtieren. Einfach tun: anders geht es wohl nicht.
Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen
Michael Fleischhacker
Herausgeber, Addendum
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