Mit Kunst und Musik durch die Psalmen mit Gott in Dialog treten
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Mama, sagte er schluchzend, ich konnte keine Rute finden, aber hier hast du einen Stein, den du auf mich werfen kannst! Er reichte mir einen Stein, den grössten, der in seiner kleinen Hand Platz fand. Da begann auch ich zu weinen, denn ich verstand auf einmal, was er sich gedacht hatte: Meine Mama will mir also weh tun, und das kann sie noch besser mit einem Stein. Ich schämte mich. Und ich nahm ihn in die Arme, wir weinten beide, soviel wir konnten, und ich dachte bei mir, dass ich niemals, niemals mein Kind schlagen würde. Und damit ich es ja nicht vergessen würde, nahm ich den Stein und legte ihn in ein Küchenregal, wo ich ihn jeden Tag sehen konnte, und da lag er so lange, bis Johan gross war.
Astrid Lindgren, Über Frieden, schwedisch 1983.
Alle kennen Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist. Viele lieben den Witz und das Können dieser Figuren. Manche erkennen die Freiheit und Selbständigkeit dieser Kinder. Dass beide nicht selbstverständlich sind und auch für Astrid Lindgren nicht einfach gegeben waren, überliefert sie mit dieser kleinen Geschichte, die ihr einst eine andere Frau erzählt hatte. Der Plot ist so einfach wie vertraut: Der fünfjährige Johan hat sich im Garten der Nachbarin an deren Erdbeeren gütlich getan, und nun gerät seine Mutter unter den Druck von Verwandten und Freunden, ihren Sohn zu züchtigen, damit aus ihm kein diebischer Geselle werde, sondern ein nützliches Glied der Gesellschaft. Kinder brauchen die Rute, sonst wird nichts aus ihnen! So war auch die Welt der Astrid Lindgren. Alle kennen sie so. Viele teilen ihre Ansichten. Manche halten es aber mit der Erfinderin von Pippi und Kalle.
Wie es in ihr zur Wende kam, erzählt dieser Ausschnitt: Johan wird von seiner Mutter, die nicht ihrem Herzen folgt, sondern ihrer Mitwelt, geschickt, selbst eine Rute zu schneiden. Er ahnt, wofür. Da er keine findet, bringt er einen Stein. Dann fällt dieser unglaubliche Satz aus dem Mund eines Fünfjährigen: Hier hast du einen Stein, den du auf mich werfen kannst. Mit ihm beschämt er seine Mutter, die sich von ihrer Mitwelt abwendet, um ihrem Herzen zu folgen. Der Junge bleibt ihr sogar dann noch nahe, als er erkennt, dass er gezüchtigt werden soll, weil man das so tut mit bösen Jungs, und darauf verzichtet, aus der vergeblichen Suche einen Vorteil zu ziehen. So beschämt er die Schamlose. So erweicht er die Hartherzige. Sie ist zwar nicht wie die Schamlosen und Hartherzigen, macht sich ihnen aber für einen Moment lang gleich, indem sie dem Druck ihrer Mitwelt nachgibt. Dieser Moment wird buchstäblich gelöscht, indem beide weinen, soviel sie können.
Für Astrid Lindgren endete jede schwarze Pädagogik mit diesem Moment und seiner Löschung. Niemals würde sie einen noch so bösen Jungen schlagen. Dies zieht sich durch ihr ganzes Erzählwerk. Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist sind keine Engel. Weil sie aber in Freiheit und Selbständigkeit leben, können sie, was der fünfjährige Johan konnte. Astrid Lindgren zeichnete alle Kinderfiguren, während sie hinter sich den Stein im Küchenregal wusste. Dort sah sie ihn jeden Tag, bis ihr Johan gross war. Das allerdings dauerte viele schöne Kinderbücher lang.
Der Satz des Fünfjährigen klingt wie der unglaubliche Satz von Jesus, als man ihm eine Ehebrecherin brachte, die von Gesetzes wegen zu steinigen wäre (Dtn 22,23-24): Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie! (Joh 8,7). Die Mitwelt verlangte nützliche Glieder der Gesellschaft, und so setzte sie Jesus unter Druck. Doch er folgte nicht ihr, sondern seinem Herzen. Wissend, dass keiner ein Engel ist und jeder auch ein böser Junge, beschämte er sie. Sie aber nahmen ihn nicht in den Arm, um zu weinen, soviel sie konnten. Sie blieben bei ihrer schwarzen Pädagogik und kreuzigten ihn wegen seiner Freiheit und Selbständigkeit.